X (vormals Twitter): Lob auf das weiterhin beste soziale Netzwerk (2024)

Gastkommentar

Auf X herrschen nur noch Fake News und Hate-Speech, seit Elon Musk den Kurznachrichtendienst gekapert hat. So sieht es die öffentliche Einheitsmeinung – ein alter Twitterer aber fühlt sich immer noch wohl.

Markus Schär

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«Ich wünsche mir, ewig zu leben. Was soll ich tun?», fragt ein Jude seinen Rabbi. «Mach bei Twitter mit.» «Und dann lebe ich ewig?» «Nein, aber du wünschst es dir nicht mehr.» Solche jüdischen Witze verbreitet @ModernTalmud – nebst Nachrichten zum Krieg in Gaza und Aufrufen zur Befreiung der Geiseln.

Der Ruf von Twitter, pardon: X war schon besser. Der «Kurznachrichtendienst», wie er immer noch missverstanden heisst, galt ab 2006 als Forum, auf dem sich die Menschen aus aller Welt austauschten, Informationen beschafften und im Arabischen Frühling von 2011 gar zum Aufstand gegen die Staatsgewalt zusammenfanden.

Doch spätestens Elon Musk machte diesen Ruf zuschanden. Der reichste Mann der Welt mit gegen 200 Millionen Followern nutzte Twitter nicht nur zur Selbstinszenierung und zu Kursmanipulationen bei Bitcoin und Tesla. Er sorgte auch selbstherrlich für den Niedergang. 2022 kaufte er Twitter, weil ihn die Firma nach grossmäuligen Ankündigungen dazu zwang. Und er dampfte den Unternehmenswert von den 44 Milliarden Dollar, die er vor eineinhalb Jahren zahlte, auf derzeit 12 Milliarden ein.

Flucht zur Konkurrenz

Dafür sorgten erratische Entscheide, getrieben von ADHS und Egomanie: die Umbenennung zu X samt Ausrottung des ikonischen Vogels; die Einführung von Zwangsabos für prominente Nutzer; die Wiederzulassung von gesperrten Accounts, bis hin zum Verschwörungstheoretiker Alex Jones und zum Ex-Präsidenten Donald Trump.

Damit verscheuchte Elon Musk grosse Werbekunden, vor allem aber viele Nutzer. Auch im deutschsprachigen Raum kokettierten auf ihren Ruf bedachte Journalisten, Politiker, Marken und Institutionen mit dem Abschied von X und der Flucht zu einer Alternative: zu Bluesky, dem Klon von Twitter-Gründer Jack Dorsey, oder zu Threads, der Konkurrenz von Meta.

Doch die Flüchtigen irren. Twitter bleibt wertvoll, dank den Nutzern, die aller Selbstsabotage des Alleinherrschers trotzen. Ja, es ist in diesen bewegten Zeiten wohl wertvoller denn je, weil es Nutzen bietet wie kaum ein anderes Medium. Wie quälten die Hamas-Terroristen ihre Opfer? Wie drückten sich die Präsidentinnen von Universitäten um eine Verurteilung des Antisemitismus? Wie rollten die deutschen Bauern mit ihren Traktoren zu Blockaden an? Oder wie bringt der argentinische Präsident Javier Milei sein Land aus der Misere heraus? Wer Twitter nutzt, kann sich selber ein Bild machen und eine Meinung bilden.

Der Kurznachrichtendienst bietet einiges mehr. Wichtig sind gerade nicht die kurzen Nachrichten mit anfangs 140 und inzwischen 280 Zeichen, sondern die Fotos, Videos oder Dokumente, die sich anhängen lassen. Und die Stellungnahmen, die zahlende Kunden jetzt verbreiten können: Der Hedge-Fund-Manager @BillAckman, der den Widerstand gegen die Wokeness an US-Hochschulen anführt, erläuterte seinen Standpunkt in einem Tweet mit 25000 Zeichen.

Wie sich die Menschen direkt ansprechen lassen, führte ein Jahr lang der US-Präsidentschaftskandidat @VivekGRamaswamy vor. Er nutzte als blitzgescheiter Jünger von @realDonaldTrump seinen Account nicht nur für Slogans und Provokationen: Er zeigte vor allem, wie er bei Wählerversammlungen auf Störer einging oder im Dialog einen Mix aus hinduistischem Glauben und amerikanischen Werten anpries – nachdem er sich mit dem Fragesteller bei Liegestützen gemessen hatte. Nach den Vorwahlen in Iowa zog er sich zurück, auf Twitter bleibt er dabei.

Gewiss, die israelische Armee @IDF oder die deutschen Alternativmedien wie @niusde bieten keine unparteiische Weltsicht. Aber sie liefern, wie viele weitere Quellen, mehr Anschauungsmaterial als die meisten traditionellen Medien, die auch nicht unparteiisch sind.

Wissen für das Volk

Seit je schenken die teuersten Berater der Welt ihre Einsichten und Voraussagen auch dem gemeinen Volk, vom Politologen @ianbremmer über den Geostrategen @PeterZeihan bis hin zum Historiker @n(iall)fergus(on). Und kluge Analysen bieten auch andere Prominente wie der politisch engagierte Schachweltmeister @Kasparov63 oder der historisch interessierte Ökonom @BrankoMilan(ovic).

Auf Twitter können sich aber auch Experten ohne grossen Namen einen machen, wenn die Welt ihre Expertise braucht. So der russische Dissident @kamilkazani, der nach Studien in Peking jetzt in London lebt. Gleich nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine bot er in langen Threads (aneinandergehängten Tweets) exzellente Einführungen in die Geschichte des Landes oder die Grundlagen von Putins Herrschaft.

Und zum Krieg im Nahen Osten dringen ebenfalls wichtige neue Stimmen durch. In der Schweiz etwa Emrah Erken: Als @AtticusJazz rückt der türkischstämmige Zürcher Anwalt die Berichterstattung der Medien zurecht, klärt über Menschenrechte oder Völkermord auf und prangert die Verblendung der Hamas-Sympathisanten an.

Unterhaltung ohne Steuergeld

Sogar ein verkanntes Comedy-Talent tauchte dank Twitter auf. Die grüne Ex-Nationalrätin Meret Schneider, die als Veganerin für ihre vermeintlich freudlose Politik viel Hass erntet, schlägt mit Spott zurück. Eine rüde Beschimpfung, «Du F... weisst nicht mal, was richtige Möpse sind», konterte sie mit einem Foto von Rollmöpsen.

Ihr schwarzer Humor, mit dem sie die Hasser nachäfft, trug ihr letztes Jahr, mitten im Wahlkampf, sogar eine Sperre ein. Die Twitterer aus allen Blasen setzten sich für sie ein, trösteten sie nach der Abwahl und freuen sich, dass @schneimere auch ohne Amt tapfer weitermacht, vom Rezept für Hagebuttenmus bis zum Kalauer: «Warum heisst es Fisch mit Elektromotor und nicht Ehering?» (Okay, beim Autor funkte es auch nicht gleich.)

Die deutschen Grünen sind ebenso unterhaltsam, allerdings unfreiwillig, da sie parodiert werden. Der Account @baerbockpress bietet ein witziges Kontrastprogramm zur teuren Selbstinszenierung der Aussenministerin. «Heute reise ich ins österreichische Davos und treffe hier auf CEO*innen, Unternehmer*innen und andere Wichtigtuer*innen, denen ich die ökumenischen Zusammenhänge erklären muss» führte zu ebenso giftigen Antworten wie: «Woah Lene, dat OutsideOutfit is ze Wahnsinn. Voll die Limo und den Fahrer passend zu ze Pumps gewählt».

Die Publizistin @VeroWendland dichtete gar ein Epos für die grünen Regent*innen, die sich vor ein bisschen Bauernprotest fürchten. Erste von elf bissigen Strophen: «Kinder war’n das schöne Zeiten! Brokdorf, Wendland, Startbahn West: Diskutieren, kämpfen, streiten, unsre Demos war’n die besten.»

Und auch Profis gönnen dem Publikum mal eine Pointe. So @viktorgiacobbo, der zur Traktor-Blockade auf den Autobahnen zündelte: «Bauern beweisen: Ohne aggressive Kleberei geht es doch auch!» Er klopft aber nicht nur Sprüche, sondern lässt sich auch auf Austausch ein. Sein Ex-Kumpan pflegt derweil den Ruf von Twitter als Hort der Gehässigkeit.

Wahlverwandtschaften online

Herrscht auf X à la Elon Musk tatsächlich die Hölle, mit Fake News und Hate-Speech? Nein, die Nutzer können sich vor dem Algorithmus schützen, der «Für dich» Posts auswählt, indem sie wie seit je ihre eigene Timeline pflegen: spannenden Leuten folgen, mühsame stumm stellen, böswillige blockieren. Für mehr Hygiene sorgen auch neue Funktionen. So kann die Community zu Posts den Kontext bieten, also vor fragwürdigen Videos oder umstrittenen Informationen warnen – Schwarmintelligenz statt Zensurinstanz.

Für alte Twitterer gibt es jetzt eher zu wenig Streit. Denn die Blasen haben sich abgekapselt, die Diskussionen totgelaufen. Und viele, die Widerspruch nicht ertragen oder andere Weltanschauungen verdammen, haben sich in den vermeintlich himmlischen Bluesky abgemeldet.

Immerhin bleiben die vertrauten Stimmen mit ihren interessanten Idiosynkrasien. Der Mathelehrer im Ruhestand @HansruediWidmer, der zu jedem Tag des Jahres eine Formel findet: ob 31+12=20+23 oder √0=√9+√0+√1–√2×√(0+2)–√4. Die Lektorin Claudia Vamvas, die als @akkordeonistin früher über Beobachtungen im Bus schrieb und jetzt Lebensfragen stellt: «Hat sich bei dir schon einmal ein Standpunkt nur durch Nachdenken grundlegend geändert?» Oder der Journalist @ThomasWidmer1 («1962 geboren. Immer noch da.»), der täglich einen Blog-Eintrag über seine Wanderungen bewirbt und frühmorgendliches Liken auch einmal mit einem Gruss verdankt: «Hoi Markus, schönen Tag!»

Da ist auch immer noch der pensionierte Bundesgerichtskorrespondent der NZZ Markus Felber vulgo @Frechgeist. Und dies aus gutem Grund: «Obwohl der durchschnittliche IQ auf X nicht mehr derselbe ist wie seinerzeit auf Twitter, ist er immer noch klar höher als auf Bluesky und Threads. Für euch ein paar Wochen lang getestet.»

24 Kommentare

Andreas Egli

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Nicht zu überschätzen ist der Wert von X als Medium, das unabhängig von den Medien-Netzwerken der USA Sachverhalte und Fakten darstellen kann. Es wäre wünschenswert, die Auslandredaktion der NZZ würde sich auch nicht nur über CNN/MSNBC etc. informieren und gelegentlich mal einen Gegencheck auf X machen (nur weil es auf CNN und MSNBC gesagt wird, wird es nicht von zwei Quellen bestätigt, sondern nur nachgeplappert...). Schon klar, dass das einigen, die sich ihr Weltbild schon machen liessen, nicht passt.

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E. B.

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Herzlichen Dank an die NZZ für diesen Artikel.Mit "X" und den meisten sozialen Medien verhält es sich wie mit dem viel gescholtenen Fernsehen: Es kann kluge Menschen klüger und dumme Menschen dümmer machen.Es bleibt jedem selbst überlassen, was er mit "X" macht.Ich schätze "X", weil wirklich jede Meinung vertreten ist und weil ich Informationen direkt von den Nutzern erhalte.Ein "X"-Nutzer veröffentlicht beispielsweise Fotos seines Arbeitsweges durch Portland Oregon, die die Verwahrlosung durch die Fentanyl-Epidemie und die daraus resultierende Obdachlosigkeit und Kriminalität greifbar machen, wie ich es noch in keiner Zeitung gelesen habe.Ich hoffe, "X" bleibt uns erhalten.

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